Dissoziative Identitätsstruktur: Warum viele nicht an sie glauben – trotz klarer wissenschaftlicher Belege
In unserem Artikel „DIS gibt es! Und diese Studien belegen es“ haben wir gezeigt: Die Dissoziative Identitätsstruktur (DIS) ist wissenschaftlich anerkannt, neurobiologisch nachweisbar und häufiger, als viele denken. Und trotzdem erleben wir immer wieder Zweifel, Abwertung oder sogar offene Ablehnung. Warum ist das so? Warum wird eine wissenschaftlich belegte Realität so oft abgestritten? Genau darum geht es in diesem Beitrag.
1. Dissoziative Identitätsstruktur – Psychologische Schutzstrategien
Für viele Menschen ist die Vorstellung, dass ein Kind so schwere Erfahrungen macht, dass es seine Erlebenswelt aufspalten muss, schlicht unerträglich. Um diese Wahrheit nicht zulassen zu müssen, greifen psychologische Schutzmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung oder Bagatellisierung. Es fühlt sich sicherer an, DIS als „Erfindung“ oder „Hollywood-Phantasie“ abzutun, als sich der Erkenntnis zu stellen, wie verbreitet schwere Traumatisierungen sind.
Zudem erzeugt das Wissen um Dissoziative Identitätsstruktur kognitive Dissonanz: Wenn es solche Überlebensmechanismen gibt, müssen wir anerkennen, dass unsere Gesellschaft an vielen Stellen versagt hat. Im Kinderschutz, in Familien, in Institutionen. Diese Erkenntnis ist unbequem und wird deshalb oft abgewehrt.
Eine ergänzende Perspektive bietet die Betrayal-Trauma-Theorie von Jennifer J. Freyd (1996). Sie beschreibt, dass besonders Erlebnisse von Verrat durch nahe Bezugspersonen so traumatisch sein können, dass sie aktiv verdrängt werden, um die Bindung an diese Personen aufrechtzuerhalten. Diese Dynamik hilft zu verstehen, warum auch auf gesellschaftlicher Ebene so heftig gegen die Anerkennung von traumatischen Realitäten reagiert wird.

2. Gesellschaftlicher Umgang mit Trauma – Eine Kultur des Wegschauens
Gesellschaftlich wird über Trauma, vor allem über frühkindliches Trauma, immer noch viel zu wenig gesprochen. Themen wie sexualisierte Gewalt, emotionale Vernachlässigung oder systematische Misshandlung sind überfrachtet mit Tabus, Schuldgefühlen und Scham. DIS zwingt uns, genau hinzuschauen: Wenn so viele Menschen eine solche Struktur entwickeln, dann stimmt etwas Grundlegendes nicht in unserer Gesellschaft. Das macht Angst. Es ist einfacher, „Ausnahmen“ zu konstruieren oder Betroffene als „besonders labil“ darzustellen, als die systemische Dimension zu erkennen. Wer DIS anzweifelt, muss sich nicht mit der unbequemen Wahrheit auseinandersetzen, dass Gewalt und Vernachlässigung tief in gesellschaftliche Strukturen eingewoben sind.
Eine ergänzende Erklärung liefert die Cultural Trauma Theory von Jeffrey C. Alexander (2004). Diese Theorie beschreibt, dass Gesellschaften kollektive Traumata häufig verdrängen oder umdeuten, um ihr positives Selbstbild zu schützen. Das Eingeständnis tiefgreifender Missstände würde bedeuten, das Bild einer „guten“ und „sicheren“ Gesellschaft zu hinterfragen – ein Prozess, der massiven inneren und äußeren Widerstand auslöst.

3. Warum DIS oft lächerlich gemacht wird – und was dahinter steckt
Popkultur hat Dissoziative Identitätsstruktur lange verzerrt dargestellt: Von Horrorfilmen bis True-Crime-Dokumentationen wird DIS häufig als Sensationsobjekt benutzt. Anteile werden als „böse“ oder „gefährlich“ dargestellt, was nichts mit der realen Erfahrung von DIS-Menschen zu tun hat. Diese Darstellungen prägen Vorurteile und führen dazu, dass ernsthafte Berichte über DIS belächelt oder nicht ernst genommen werden.
Dahinter steckt oft ein tiefes Bedürfnis nach Kontrolle. Komplexität verunsichert. Es ist leichter, eine einfache Geschichte von „verrückten Persönlichkeiten“ zu glauben, als sich auf die vielschichtige Realität einer DIS-Struktur einzulassen. Lächerlichmachung wird so zu einem Schutzschild gegen Überforderung.
Eine ergänzende Perspektive bietet hier die Stigma-Theorie von Erving Goffman (1967). Goffman beschreibt, dass Menschen, die von gesellschaftlichen Normen abweichen, oft stigmatisiert und entmenschlicht werden, um die eigene Unsicherheit zu reduzieren. In diesem Zusammenhang wird DIS nicht ernst genommen oder ins Lächerliche gezogen, weil die Auseinandersetzung mit der Komplexität zu beunruhigend wäre. Ergänzend erklärt das Konzept des „Othering“, wie Gruppen systematisch als „anders“ markiert werden, um eine scheinbare Ordnung aufrechtzuerhalten.

4. Dissoziative Identitätsstruktur – Wie wir mit dem Zweifel umgehen können
Zweifel von außen können wehtun. Vor allem, wenn wir ohnehin schon an unserer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Umso wichtiger ist es, unser eigenes Wissen zu stärken: zu lesen, zu lernen, Fakten zu kennen. Aber Wissen allein reicht nicht. Wir dürfen uns auch erlauben, Grenzen zu setzen: Nicht jede Diskussion müssen wir führen, nicht jede Abwertung müssen wir aushalten.
Es hilft, sich daran zu erinnern: Zweifel sagt oft mehr über die andere Person aus als über uns. Wer uns und unsere Struktur anzweifelt, schützt damit oft die eigene heile Welt. Das heißt nicht, dass wir uns rechtfertigen müssen. Es heißt, dass unser Sein allein schon eine unbequeme Wahrheit sichtbar macht. Und das ist eine unglaubliche Kraft.
Eine ergänzende Perspektive bietet hier das Konzept der „Empowerment-Theorie“ (Rappaport, 1987). Empowerment bedeutet, die eigene Wahrnehmung zu stärken, Selbstwirksamkeit zu erfahren und gesellschaftliche Bedingungen aktiv zu hinterfragen. Für uns heißt das: Nicht Rechtfertigung, sondern Selbstbestärkung. Uns nicht durch Zweifel von außen entmutigen zu lassen, sondern auf unsere eigene Wahrheit und unser Erleben zu vertrauen.

5. Warum Anerkennung von DIS gesellschaftlichen Wandel fordert
Wenn wir die Existenz von DIS anerkennen, können wir nicht nur Einzelfälle von Trauma wahrnehmen, wir müssen auch die Bedingungen hinterfragen, die solche Strukturen entstehen lassen. Die Anerkennung von DIS ist deshalb auch eine Aufforderung, über institutionelles Versagen, gesellschaftliche Werte und den Umgang mit Macht und Ohnmacht nachzudenken.
Trauma ist kein individuelles Problem, sondern ein kollektives Thema. Wer DIS anerkennt, stellt sich der Aufgabe, bestehende Strukturen zu ändern, in Bildung, Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft. Und genau das macht die Annahme so herausfordernd: Sie verlangt Veränderung, nicht nur Mitgefühl.
Eine ergänzende Perspektive hierfür bietet die Theorie des sozialen Wandels nach Kurt Lewin (1947), die beschreibt, dass echte Veränderung nur möglich ist, wenn bestehende Normen „aufgetaut“, hinterfragt und neu geordnet werden.

Fazit
Dissoziative Identitätsstruktur zu verstehen heißt nicht nur, Studien zu lesen, sondern auch, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen. Dass DIS immer noch so stark hinterfragt wird, zeigt nicht, dass es sie nicht gibt. Es zeigt, wie schwer es vielen Menschen fällt, Trauma, Gewalt und die Folgen davon wirklich anzuerkennen. Wir sind hier, wir sind real – und wir sind viele. Und je mehr Wissen, Mitgefühl und Mut wir in die Welt bringen, desto weniger Platz bleibt für Zweifel und Stigmatisierung.