Alltag mit DIS – Und plötzlich wusste jemand (Teil 1)
Diese Geschichte, geschrieben von Feli, erzählt von Lia im Alltag mit DIS. Und damit auch von einem System. Von vielen Stimmen in einem Alltag, der nach außen normal aussieht und innen oft alles andere ist. Sie erzählt von Kontrollstrategien, inneren Schutzmechanismen, dem Mut, leise sichtbar zu werden und von der Kraft einer echten Begegnung.
Für viele DIS-Menschen sind es nicht die lauten Veränderungen, die am meisten bewirken. Sondern die kleinen Sätze. Die stillen Momente. Die echten Fragen. Lias Weg durch fünf Kapitel ist kein Handbuch. Kein Lehrbuch. Kein Drama. Sondern eine Einladung: hinzuschauen, mitzuspüren, zu erkennen.
Vielleicht erkennt ihr euch wieder. Vielleicht jemanden, den ihr begleitet. Vielleicht öffnet sich ein neuer Gedanke. Was auch immer es ist, willkommen in Lias Welt.
Kapitel 1 – Auf leisen Sohlen durch den Alltag
Ich heiße Lia. Ich bin dreißig. Ich arbeite im Marketing. Ich trinke gern Kaffee, aber nicht zu stark. Ich mag es, wenn der Himmel so milchig ist, wie heute. Ich… bin viele. Aber das weiß niemand. Zumindest soll es niemand wissen.
Ich bin gut darin geworden, leise durch den Alltag zu gehen. Ich habe gelernt, die richtige Mimik zu finden, die passende Reaktion zu geben, den Blick nicht zu lange schweifen zu lassen, wenn innen gerade Chaos tobt. Ich bin wie ein Radio, das auf mehreren Frequenzen gleichzeitig sendet. Aber nur auf einer spielt der Ton nach außen.
Heute zum Beispiel. 8:12 Uhr. Die U-Bahn ist voll, wie immer. Ich habe die Hand an der kalten Metallstange, mein Blick haftet an einem Werbeplakat gegenüber. „Sei ganz du selbst!“ steht da in bunten Lettern. Ich schlucke. Ironisch. Sehr witzig. Was, wenn da fünf verschiedene Versionen von „du selbst“ sind? Welche davon ist dann echt?
„Lass mich kurz!“, zischt es in mir. Die Stimme ist scharf, wachsam.
„Nein, ist okay. Wir haben’s gleich geschafft.“
Ich antworte innerlich, gedanklich, wie im Flüsterton. Ich weiß, dass sie es hasst, wenn ich öffentlich unsicher bin. Sie, die Wächterin, duldet keine Schwäche. Vor allem keine, die sichtbar werden könnte.
Ich steige aus, atme durch. Zwei Stationen noch zu meiner Agentur. Der Weg durch die Nebenstraße tut gut. Kopfsteinpflaster, ein paar knorrige Bäume, eine Bäckerei, die nach Zimt duftet. Ich gehe oft bewusst hier lang. Es ist ruhiger. Hier schaltet sich manchmal jemand anderes ein.
„Weißt du noch, wie wir früher immer Zimtsterne gebacken haben?“, kommt es leise aus dem Inneren. Die Stimme ist heller, weicher. Das Kind. Ich spüre, wie meine Schritte sich verändern, ein Hauch von Neugier. Die Augen bleiben kurz bei der Auslage der Bäckerei stehen, bevor ich bewusst wieder umschalte.
„Später, Kleines. Jetzt arbeiten wir erst.“
Ich höre mich selbst diesen Satz denken. Oder fühlen? Es ist schwer zu sagen. Vieles läuft fließend. Manche Schichten in mir sind hauchdünn, andere wie Panzerglas. Und manchmal… verschwimmen sie.
In der Agentur bin ich die „kreative, ein bisschen schräge Lia“. Ich bin zuverlässig, bringe gute Ideen, bleibe aber immer ein bisschen auf Abstand. Keine engen Freundschaften, keine Afterwork-Partys, keine Einblicke in mein Leben. Ich habe gelernt, dass „komisch“ sein besser ist als „komplett durchschaut werden“. Wenn Menschen denken, du bist ein wenig eigen, lassen sie dich in Ruhe.
Heute steht ein Pitch an. Ich habe den Großteil der Präsentation gemacht, aber wenn ich ehrlich bin: ich war’s nicht allein.
„Die Idee mit dem animierten Storyboard war meine.“ meldet sich eine andere Stimme in mir, ein bisschen stolz, ein bisschen erwartungsvoll. Sie ist die Kreative. Sie liebt es, wenn Farben Geschichten erzählen dürfen. Sie ist wortgewandt, mutig, aber sie kann sich nicht zeigen. Nicht wirklich. Nur durch meine Hände.
„Ich weiß. Du warst großartig,“ murmele ich unhörbar in mich hinein.
Ich spüre, wie sie innerlich aufatmet. Manchmal reicht ein Satz, damit niemand in uns innerlich „abtaucht“. Wir nennen das so, wenn jemand tiefer sinkt, sich zurückzieht, manchmal für Tage.
Die Präsentation läuft gut. Ich sehe die Blicke meiner Kolleginnen und Kollegen, wie sie nicken, wie sie die Entwürfe mustern. Doch während mein Körper vorne steht, wandert mein Inneres ab. Ein dumpfer Druck breitet sich in der Brust aus. Ich spüre ihn sofort.
„Nicht jetzt…“ Aber es ist zu spät. Die Geräusche werden leiser. Die Bilder verlieren Schärfe. Es ist wie durch Watte sehen. Ich blinzele, versuche mich zu verankern, klammere mich an den Rand des Konferenztisches.
„Du hast gesagt, du passt auf!“. Die Wächterin, wieder wach. Scharf. Alarmiert.
„Ich versuche es!“
„Wenn ER kommt, war’s das!“
Ich weiß, wer „er“ ist. Oder was er ist. Der Trauma-Anteil. Die Erinnerung, die nicht richtig in der Vergangenheit bleiben will. Er ist kein „er“, nicht wirklich. Er ist mehr wie eine Nebelwand aus Schmerz, Wortfetzen, einem krummen Flur, dem Geruch von altem Holz, einem Zittern, das niemals ganz aufhört. Ich zwinge mich, zu atmen.
„Lia, alles okay?“ fragt jemand.
Ich lächle. Nicken. „Ja, nur einen Moment… Schwindel.“
Ich hasse Lügen. Aber ich hasse es noch mehr, wenn jemand zu viele Fragen stellt.
Später sitze ich in der Teeküche, den Blick auf den Dampf meines Bechers gerichtet. Kamille. Immer Kamille, wenn es kritisch wird. Ich schreibe in unser Notizbuch. Nur ein paar Worte:
„Danke. Ihr habt mir geholfen. Es war knapp heute. Vielleicht reden wir später?“
Manche Systeme führen ein Whiteboard. Wir haben ein Buch. Eine Möglichkeit, zwischen Innen und Außen zu kommunizieren, auch wenn wir nicht immer direkten Wechsel zulassen können. Es hilft. An diesem Abend entscheide ich mich, noch eine Runde zu gehen. Die Wohnung fühlt sich eng an, und ich weiß, dass der Wächter wach ist. Sie wird nicht schlafen, wenn sie denkt, es könnte wieder „passieren“.
Ich laufe also durch die Straßen. Es ist März, kalt, aber nicht unangenehm. Ich liebe die Art, wie Städte im Halbdunkel atmen. Man sieht weniger Gesichter, aber manchmal mehr Wahrheit. Und genau dort, in diesem Moment, in dem ich nur Teil meiner eigenen Gedanken bin, passiert es. Eine Stimme. Echt. Von außen.
„Entschuldigung… bist du Lia?“
Ich bleibe stehen. Verwirrt. Da ist jemand, etwa mein Alter, dunkle Jacke, ein offener Blick, fast vorsichtig. „Ja?“
„Ich… Ich bin Luise. Wir haben mal in der Selbsthilfegruppe gesprochen. Vor fast zwei Jahren. Du warst nur einmal da. Ich… erkenne dich. Dachte, ich sag Hallo.“
Ein Moment Stille. Innen wird es laut
„Nicht sagen, nicht verraten. Abstand halten.“
„Wer ist sie? Weiß sie…?“
„Vielleicht ist sie wie wir.“
Ich nicke langsam. Erinnerungen blitzen auf. Damals war ich auf Anraten der Therapeutin dort. Eine Gruppe für Menschen mit struktureller Dissoziation. Ich habe nicht gesprochen. Nur gesessen. Beobachtet. Und dann nie wieder hingegangen.
Und doch, diese Luise erinnert sich. Sie sieht mich an. Mit einem Blick, der mehr weiß, als sie sagt.
Und in mir flüstert jemand:
„Vielleicht ist sie nicht die Gefahr. Vielleicht ist sie die Begegnung, die wir brauchen.“
Kapitel 2 – Stimmen im Nebel
Luise sagt nichts weiter. Sie steht einfach da. Weder zu nah noch zu weit weg, kein fordernder Blick, keine Frage in der Stimme. Nur Präsenz. Und das ist seltsam… angenehm.
„Ich wusste nicht, ob du dich erinnerst“, sagt sie leise.
Ich nicke. Und plötzlich spüre ich, wie etwas in mir nach vorn drängt. Nicht mit Macht, sondern mit Sehnsucht.
„Vielleicht will ich mich erinnern. Vielleicht will ich wissen, wie es ist, wenn jemand weiß.“
Ich erschrecke fast ein wenig über den Gedanken. Ich, die alles daran setzt, unsichtbar zu bleiben. Aber irgendetwas an dieser Begegnung fühlt sich… nicht gefährlich an.
„Magst du ein Stück mitlaufen? Ich war eh auf dem Weg nirgendwohin“, sage ich. Halb Witz, halb Schutzschild.
Luise lächelt. „Nirgendwo ist manchmal ein guter Ort.“
Wir laufen schweigend los. Eine Nebenstraße, Kopfsteinpflaster, ein vertrautes Flackern der Straßenlaternen. In mir tobt es. Die Wächterin ist wachsam. Das Kind ist neugierig. Die Kreative malt schon innere Bilder mit Worten wie „unerwartete Kollision zweier Galaxien“. Und ganz leise spüre ich den dunklen Nebel. Nicht nah, aber da. Wie ein Echo.
„Du warst damals nicht lange in der Gruppe“, sagt Luise nach ein paar Minuten. Ihre Stimme ist ruhig, fast tastend.
„Aber du bist mir trotzdem aufgefallen.“
Ich ziehe die Schultern hoch. Eine Bewegung, die so viele Bedeutungen hat.
„War nicht mein Ort. Zu laut innen. Zu viel Spiegel.“
Luise nickt. „Ja. Versteh ich. Ich hab ein Jahr gebraucht, bis ich mich überhaupt getraut habe zu reden.“
Stille. Keine Nachfrage. Kein Druck. Nur ein Raum, der sich öffnet, weil niemand versucht, ihn sofort zu füllen.
„Sie weiß. Sie weiß, wie es ist.“ flüstert jemand in mir. Und dieses kleine „sie weiß“ fühlt sich an wie ein Schlüssel.
„Darf ich fragen… also…“ beginne ich, und dann kommt es wie ein Stolperstein in den Gedanken, „…seid ihr auch… also… mehr?“
Luise lächelt traurig. „Ja. Wir sind viele. Und wir sagen das inzwischen auch so. Nicht immer, nicht überall. Aber manchmal. Wenn es sich sicher anfühlt.“ Ich nicke. Ich will mehr wissen. Und gleichzeitig auch nicht. Denn was, wenn sie etwas lebt, das ich mich nicht traue? Was, wenn sie frei ist, und ich gefangen?
Später, zurück in unserer Wohnung, sitze ich im Dunkeln. Die Straßenlichter werfen flackernde Muster an die Wand, und ich spüre, wie sich innen etwas bewegt.
„Sie hat’s gesagt. Einfach so. ‚Wir sind viele‘.“
„Und sie hat überlebt.“
„Mehr noch… sie hat Raum bekommen.“
„Und wenn sie lügt?“
„Oder wenn sie geht, sobald wir uns zeigen?“
Ich öffne das Notizbuch wieder. Diesmal schreibe ich nicht. Ich male. Ein Kreis. Viele kleine Punkte darin. Verbunden durch Linien, manche klar, manche verwischt. Dann schreibe ich leise: „Was, wenn wir doch nicht allein sind?“
Am nächsten Tag ist alles wieder Alltag. Kaffee. Kopfhörer. Agentur. Mein Gesicht im Spiegel, ruhig wie eine glatte Seeoberfläche. Doch unter der Oberfläche: Bewegung. Strömungen. Fragen. Luise schreibt mir. Eine Nachricht, die wie ein Stein ins Wasser fällt: „Falls du irgendwann magst, reden wir. Keine Gruppe. Kein Label. Nur so, wie du bist.“ Ich starre lange auf die Nachricht. Und dann passiert etwas, das selten ist.
Ich lasse jemand anderen die Antwort schreiben. „Vielleicht. Vielleicht bald. Danke.“
Und innen? Applaus. Unsichtbar. Aber spürbar.
Kapitel 3 – Splitter im Licht
Drei Tage sind vergangen, seit wir Luise wieder getroffen haben. Drei Tage, in denen alles gleich aussieht und doch nichts mehr ist wie vorher.
„Sie hat uns gesehen, ohne zu starren.“
„Sie hat nicht gefragt, wer du bist. Sie hat dich einfach sein lassen.“
„Oder sie hat nur gespielt. Manche Menschen tun das.“
„Oder wir haben Hoffnung.“
Ich spüre sie alle. Nicht so, dass sie die Kontrolle übernehmen, eher wie Stimmen hinter einem Vorhang, atmend, lauschend. Es fühlt sich nicht bedrohlich an. Eher wie ein vorsichtiges Zusammenrücken, so als würde jemand die Hände reichen in einem Raum, der lange dunkel war.
Ich treffe Luise am Samstag in einem kleinen Café. Eines dieser Orte mit zu vielen Pflanzen und zu wenig Tischen, aber warmem Licht und dieser unterschwelligen Botschaft: Hier darfst du ein bisschen seltsam sein. Wir sitzen am Fenster. Ich mit einem Cappuccino, sie mit einem Kräutertee. Ihre Hände spielen mit dem Löffel, nicht nervös, eher… fokussiert.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagt sie.
Ich nicke. Es fühlt sich an, als müsste ich innerlich durch zehn Schichten krabbeln, um überhaupt ein Gespräch zuzulassen. Die Wächterin ist präsent. Das Kind beobachtet. Die Kreative malt Fensterlichtmuster auf die Tischplatte. Und tief drinnen bewegt sich etwas, das nicht gesehen werden will.
„Du musst nicht alles erzählen.“
„Aber vielleicht ein bisschen.“
„Wenn du nur lächelst, bleibt sie auch freundlich.“
Ich atme durch.
„Ich lebe so“, sage ich dann. „Schon immer. Nur… lange ohne Worte dafür.“
Luise nickt. „Ich auch. Am Anfang dachte ich, ich bin einfach kaputt. Zersprungen. Dann hab ich gemerkt, dass jedes dieser Splitter Licht fangen kann.“ Ich schlucke. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Und zu wahr, um nicht weh zu tun.
„Und… wie nennt ihr euch?“, frage ich zögernd.
Luise denkt kurz nach. Dann: „Unterschiedlich. Wir haben keinen Gruppennamen. Nur Namen für Einzelne. Und manchmal auch nicht. Wir sind nicht immer einig. Aber wir reden. Und das hilft.“
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Aber nicht diese Ehrlichkeit. Diese Ruhe. Sie tut nicht so, als sei es leicht, aber sie tut auch nicht so, als sei es ein Fluch.
„Vielleicht… kann man mit vielen Stimmen sprechen, ohne verrückt zu sein.“
„Wir sind nicht verrückt. Wir sind komplex.“
„Komplexe Wunderwerke mit Systemfehlern.“
Denkt die Kreative und muss innerlich grinsen.
Auf dem Heimweg spüre ich die Müdigkeit. Nicht körperlich. Innen. Es ist anstrengend, ehrlich zu sein. Auch nur ein bisschen. Es ist, als würde jede Offenheit eine Tür aufmachen, hinter der sich Erinnerung, Angst und Sehnsucht stapeln wie alte Kisten auf dem Dachboden.
Ich sitze später im Bett, das Notizbuch auf den Knien, und schreibe:
„Luise kennt sich. Und sie hat nicht versucht, uns zu reparieren. Vielleicht dürfen wir auch mal einfach sein.“
Zwei Nächte später wache ich auf. Schweiß. Atem, der nicht mir gehört. Ich bin nicht ganz da oder nicht ganz ich. Ich taste nach dem Licht, finde den Schalter nicht. Alles ist falsch im Raum.
„Wo ist die Tür?
„Nicht hier.“
„Es riecht nach Keller.“
„Du bist sicher.“
„Bist du sicher, dass wir sicher sind?“
Die Welt flackert. Ich taste mich durch Dunkelheit, erreiche schließlich die Lampe. Das Licht ist wie ein Schlag ins System. Ich taumle zurück ins Jetzt.
Am nächsten Tag ist das Kind still. Es hat sich verkrochen. Ich spüre seine Traurigkeit wie einen feinen, durchsichtigen Schleier über allem. Ich schreibe ins Buch:
„Magst du, dass ich Luise nochmal treffe?“
Nichts. Dann, nach Stunden:
„Wenn sie Kekse mag, vielleicht. Aber nicht alleine.“
Kapitel 4 – Türen, die nie ganz schließen
Es ist still, als ich nach Hause komme. Nicht außen. Sondern innen. Und das ist selten.
Normalerweise spüre ich sie, wie Bewegung hinter Milchglas. Gedankenfetzen, Gefühle, flüchtige Bilder. Doch heute: eine eigentümliche Ruhe. Nicht leer, sondern lauernd. Ich schließe die Wohnungstür, ziehe die Schuhe aus, setze mich auf den Boden. Einfach so. Rücken an die Wand. Augen zu.
„Wir müssen reden.“, denke ich. Oder vielleicht denke ich das gar nicht allein.
Es beginnt mit einem Flimmern. Nicht wie in einem Film. Kein magisches Abtauchen. Kein Spezialeffekt. Eher wie das Gefühl, dass man nicht mehr allein im eigenen Kopf ist. Nicht wirklich. Ein innerer Raum formt sich. Er ist flüchtig. Nicht aus Wänden und Möbeln gebaut, sondern aus Gefühlen, Erinnerungsfetzen, Gerüchen, Bewegungen. Ich nenne diesen Ort die Schwelle. Nicht ganz Innenwelt, nicht ganz Außenwahrnehmung. Eine Art Zwischenraum, wo wir uns manchmal begegnen, wenn wir es zulassen.
Heute ist der Raum trüb. Neblig. Wie ein altes Theater, das nie ganz leer steht. Ich spüre sie zuerst. Die Wächterin steht am Rand. Aufrecht, Arme verschränkt. Ihre Augen beobachten jede Ecke. Sie sagt nichts.
Aber ihr Blick schreit:
„Ich bin da. Ich bin wach. Ich lasse niemanden durch.“
Neben ihr, am Boden, sitzt ein kleines Wesen.
Der Kind-Anteil. Nicht eindeutig fünf oder sieben, eher ein Gefühl von „klein“. Ein Blick wie ein Tier im Unterholz. Vorsichtig, aber neugierig. Die Knie angezogen, ein Stofftier unter dem Arm, halb real, halb inneres Symbol.
Ein paar Schritte weiter: die Kreative. Sie malt mit den Fingern Lichtlinien in die Luft, als könnte sie die Stimmung im Raum umschreiben. Ihre Augen sind voller Bilder. Und Fragen.
Ich versuche zu sprechen. Worte in Gedankenform.
„Was macht das mit euch – dass Luise da ist?“
Die Wächterin antwortet zuerst.
„Es ist gefährlich. Nähe macht uns sichtbar. Sichtbarkeit ist Risiko.“
Ich nicke. Ich kenne dieses Gesetz. Es ist alt. Es hat uns oft geschützt.
Aber dann meldet sich das Kind. Leise.
„Aber sie hat nicht geschrien.“
Die Kreative lässt die Lichtlinien flackern.
„Sie hat uns gesehen. Ohne zu zerreißen. Das ist selten.“
Ich sitze mitten im Raum. Meine eigene Projektion vielleicht. Vielleicht auch einfach ein Gedanke, der sich selbst zuhört.
Und dann, ganz leise, eine Bewegung in der Dunkelheit am Rand. Er. Nicht mit einem Namen. Nicht mit einem Gesicht. Nur Präsenz.
Der Trauma-Anteil. Er kommt nicht oft hierher. Er ist kein „Teil“, der spricht oder fragt. Eher ein Schatten. Ein Druck. Eine Erinnerung, die nicht in Worte will. Und doch: Heute ist er da. Und ich spüre es: Luises Nähe hat ihn aufgewühlt. Nicht, weil sie etwas falsch gemacht hätte. Sondern weil sie gesehen hat. Und Gesehenwerden reißt an der Vergangenheit, selbst wenn niemand sie berührt.
Ich schaue in den Nebel. Dorthin, wo er ist. „Es ist okay. Du musst nicht reden. Aber du darfst da sein.“
Ein Zittern geht durch den Raum. Wie ein feines Erdbeben. Niemand geht. Niemand schreit. Das ist selten.
Ich öffne die Augen. Der Innenraum verblasst. Aber er hat Spuren hinterlassen, wie Fußabdrücke im Sand. Ich spüre sie alle in mir, klarer als sonst. Und ich weiß: Das war wichtig.
Ich greife zum Handy. Tippe eine Nachricht an Luise. „Hast du morgen wieder Zeit für einen Tee?“
Kurze Pause. Dann kommt die Antwort. „Immer. Und ich bringe Kekse mit.“ Ich lächle. Nicht groß. Aber ehrlich. Und innen? Ein Wispern.
„Vielleicht war das heute keine Gefahr. Vielleicht war es ein Anfang.“
Kapitel 5 – Die Wahrheit zwischen zwei Tassen Tee
Luise hat wieder Tee mitgebracht. Kamille für mich. Und Vanillekekse.
Wir sitzen in meinem Wohnzimmer. Es ist still, bis auf das Ticken der Uhr. Ich spüre den Blick der Wächterin in mir – wachsamer als sonst. Das Kind hockt irgendwo an der inneren Wand, bereit zu fliehen. Die Kreative malt imaginäre Muster an die Tapete. Und der Trauma-Anteil… ist da. Still. Nicht aktiv. Aber anwesend.
Luise schaut mich an. Nicht drängend. Nur da. So wie beim ersten Mal.
„Ich frag jetzt was“, sagt sie. „Und du musst nicht antworten. Aber wenn du magst…“
Ich nicke. Einatmen. Ausatmen.
„Gibt es bei euch… jemanden, der reden will, aber nicht darf?“
BÄM. Die Frage trifft mich tiefer, als ich erwartet habe.
„Was, wenn ja?“
„Was, wenn niemand versteht, was dann kommt?“
„Was, wenn er oder sie zu viel ist?“
Aber in mir meldet sich etwas. Nicht mit Worten. Eher mit einem Ruck. Wie wenn ein Luftballon gegen die Decke stößt.
„Ich will nicht reden.“
„Ich will gesehen werden.“
Mein Blick senkt sich. Meine Finger umklammern die Tasse. Und dann, fast unmerklich, verändert sich meine Haltung.
Es ist nicht mehr ganz ich, die schaut. Nicht mehr ganz Lia. Die Kreative hat sich leise nach vorn geschoben.
Nur ein Stück. Nur so viel, wie sicher ist.
„Es ist nicht leicht“, sagt sie, durch meinen Mund, aber mit einer anderen Energie.
„Weil wir zu oft erlebt haben, dass man uns falsch sieht. Als Witz. Oder als Störung. Oder als Gefahr.“
Luise nickt. Keine Überraschung. Kein Schock. Nur Verständnis. Echt.
„Ihr seid keine Gefahr“, sagt sie ruhig. „Ihr seid Menschen. Vielschichtige Menschen. Und jede von euch hat einen Grund, da zu sein.“
Ein Zittern läuft durch mich. Innen wird es laut, aber nicht chaotisch. Sondern wie viele Stimmen, die gleichzeitig atmen.
„Sie sieht uns.“
„Und sie läuft nicht weg.“
„Vielleicht dürfen wir wirklich… sein.“
Ich nicke. Und dann wechsle ich zurück. Nicht dramatisch. Nicht offensichtlich. Nur ein kleiner innerer Schritt. Lia wieder vorn. Ich.
„Danke“, sage ich. Leise. Aber voll.
Später steht Luise an der Tür. Wir umarmen uns kurz, vorsichtig, aber echt.
„Weißt du“, sagt sie, „ich glaub, manchmal sind es genau diese Begegnungen, die heilen. Nicht Therapien. Nicht Bücher. Sondern das: gesehen werden, ohne erklärt zu werden.“
Ich nicke. Und als sie geht, schreibe ich in unser Notizbuch:
„Wir sind viele. Wir sind echt. Wir sind nicht falsch. Und heute war ein Tag, an dem das jemand gesehen hat.“
Draußen fängt es an zu regnen. Drinnen ist es still. Aber nicht leer. Sondern voller Stimmen, die nicht mehr flüstern müssen.
Nachwort
Mit dieser Geschichte von Feli haben wir die Schreib-Challenge bei School of Literature gewonnen. Das Thema war „Eine unerwartete Begegnung“ und wir sind sehr dankbar dafür, denn jede Person, die diese Geschichte wirklich gelesen und gefühlt hat, ist eine Person mehr, die sich mit dem Thema DIS auseinandergesetzt hat.
Wir danken allen, die gelesen, gefühlt, geliked und kommentiert haben. Ihr habt geholfen, dass diese Geschichte nicht nur Worte bleiben musste, sondern Wirkung entfalten durfte.