Alltag mit DIS – Und plötzlich wusste jemand (Teil 2)

In unserem ersten Teil von „Lias Welt“ habt ihr Lia auf ihren leisen Wegen durch den Alltag begleitet. Habt gespürt, wie viele Stimmen in ihr sprechen. Wie jede Begegnung, jede Bewegung ein Balanceakt ist – zwischen Unsichtbarkeit und dem Wunsch, gesehen zu werden.
Falls ihr Teil 1 noch nicht gelesen habt, laden wir euch herzlich ein, das zuerst zu tun. Denn was jetzt folgt, baut auf dem auf, was ihr dort kennengelernt habt: Lias vorsichtige Schritte, ihre innere Welt, ihre erste Begegnung mit Luise. Eine Begegnung, die vielleicht nicht alles verändert. Aber genug, um leises Licht in alte Schatten zu tragen.
Hier, in Teil 2, begleiten wir Lia weiter. Auf dem Weg durch vorsichtige Freundschaft. Durch kleine Schritte. Und durch die Bewegung, die beginnt, wenn man nicht länger nur überleben will – sondern leben.
Willkommen zurück in Lias Welt. Oder: willkommen darin, sie noch ein Stück tiefer kennenzulernen.

Kapitel 6 – Ein Anfang, der anders klingt

Es ist ein leiser Morgen.
Die Stadt liegt unter einer Decke aus grauem Licht.
In mir: keine Stille. Aber auch kein Sturm. Eher ein Flüstern. Ein vorsichtiges Sich-Rühren.

Ich sitze am Küchentisch, die Hände um meine Tasse gelegt, und beobachte, wie der Dampf kleine Spiralen in die Luft malt.
Ein Teil von mir malt mit. Ein anderer Teil horcht. Und irgendwo dazwischen – ein Gefühl, das neu ist. Kein Kampf. Keine Flucht.
Nur ein leises: Vielleicht.

„Heute können wir echt sein.“

Die Kreative, leise, aber entschlossen. Ihre Stimme schwingt durch mich hindurch wie ein dünner Lichtstrahl.

„Aber vorsichtig.“

Die Wächterin, immer wachsam. Ich nicke kaum merklich. Innen und außen zugleich.

Das Handy vibriert auf dem Tisch. Eine Nachricht von Luise. „Wenn du heute raus willst: ich kenne ein Café, das leise Ecken hat.“
Ich spüre das Zögern in mir. Die Stimmen, die sich bewegen. Das Kind, das kurz den Kopf hebt. Der Trauma-Anteil, der schweigt, aber da ist.

„Nur schauen. Nur atmen.“

Ein Vorschlag, kein Befehl.

Ich tippe zurück: „Vielleicht. Ich schreib dir später.“ Vielleicht. Unser neues Lieblingswort. Nicht Ja. Nicht Nein. Aber eine Tür, die einen Spalt weit offensteht. Ich lege das Handy weg, atme tief ein. Und spüre: Heute wird ein Tag, an dem etwas wachsen könnte. Vielleicht klein. Vielleicht kaum sichtbar. Aber echt.

Kapitel 7 – Schritte zwischen Vielleicht und Jetzt

Ich stehe an der Haustür. Die Jacke offen. Der Schal lose. Eine dieser Sekunden, in denen der Körper schon bereit ist, aber der Kopf noch zaudert.

„Wenn wir jetzt gehen, ist es echt.“

Die Wächterin. Wachsam wie immer. Aber nicht ablehnend.

„Vielleicht gibt es Kekse.“

Das Kind, ein Hauch von Hoffnung in der Stimme.

Ich lächle leicht. Es ist kein Lächeln, das nach außen drängt. Nur innen. Für uns.

Ich schließe die Tür leise hinter mir. Die Straße atmet kalte Vormittagsluft. Autos rauschen vorbei, Menschen eilen, als wären sie Teil eines Rhythmus, der heute nicht meiner ist. Ich gehe langsam. Zähle meine Schritte. Sechsundvierzig bis zur Kreuzung. Dreiundzwanzig bis zur Haltestelle. Vier Minuten warten. In mir: Bewegung. Kein Sturm, aber auch keine glatte See.

„Wenn sie uns Fragen stellt, dürfen wir nicht alles sagen.“

Die Wächterin mahnt.
Ich nicke.

„Aber wir dürfen lachen, wenn es sich gut anfühlt.“

Die Kreative, ein zartes Flüstern.

„Und wir dürfen ein Bild malen. Mit Worten. Wenn wir wollen.“

Ich spüre, wie die Straßenbahn sich nähert. Ein langes metallisches Atemholen. Ich steige ein. Setze mich ans Fenster. Sehe die Stadt an mir vorbeigleiten. Heute gibt es keinen Plan. Nur ein Ziel: das Café mit den leisen Ecken. Und irgendwo dahinter: Luise.

Nicht als Retterin.
Nicht als Lösung.
Sondern einfach – da.

Vielleicht reicht das. Vielleicht ist das alles, was wir heute brauchen.

Kapitel 8 – Worte zwischen Licht und Schatten

Das Café liegt ein wenig versteckt, zwischen zwei Altbaufassaden, deren Fensterrahmen vom Wind ein wenig abgeschliffen wirken. Ich erkenne es sofort. Es riecht nach frisch gebackenen Keksen und einer Ahnung von Vanille, die sich zwischen die Töne des leisen Stimmengewirrs legt. Luise sitzt schon da. Eine Tasse Tee vor sich, die Hände um den Becher gelegt, als würde sie darin Wärme sammeln. Als ich hereinkomme, hebt sie den Blick. Kein Winken. Kein hektisches Zeichen. Nur ein leichtes Lächeln, das nicht eilt.
Ich trete an ihren Tisch. „Hallo“, sage ich leise. Sie nickt. „Hallo.“ Wir sitzen eine Weile schweigend da. Keine peinliche Stille. Eher eine, die wie ein alter Pullover wärmt, der schon viele Winter erlebt hat. „Schön, dass du gekommen bist“, sagt sie schließlich.

„Wir können immer noch gehen, wenn es sich falsch anfühlt.“

Die Wächterin, aufmerksam, aber nicht feindselig. Ich nicke innerlich. „Es fühlt sich gerade… richtig genug an“, sage ich. Luise lächelt, als hätte sie genau das verstanden. Kein Nachfragen. Kein Ziehen. Ich bestelle einen Kamillentee. Einen sicheren Geschmack, der wie ein innerer Schutzmantel wirkt. Während ich auf das heiße Wasser warte, beobachte ich die Lichtspiele auf der Tischplatte. Draußen zieht ein milchiger Himmel vorbei, wie ein Vorhang aus aufgelöster Zeit. „Manchmal“, beginnt Luise leise, „manchmal braucht es nicht viele Worte, um etwas zu verstehen. Nur jemanden, der nicht wegsieht.“ Ich spüre, wie etwas in mir aufhorcht. Ein Teil, der sonst sofort Mauern hochzieht, lässt diesmal nur die Tür anlehnen.

„Aber was, wenn sie uns doch nicht richtig sieht?“

Ein Flüstern von irgendwoher.

„Dann dürfen wir selbst wählen, wie viel wir zeigen.“

Die Kreative, weicher, mutiger.

Ich atme ein. Der Tee kommt. Die Wärme breitet sich aus, nicht nur in den Händen. „Ich bin froh, dass wir reden können, ohne alles erklären zu müssen“, sage ich schließlich. Luise nickt. „Ich auch.“ Für eine Weile reden wir über Dinge, die leicht sind. Bücher, die wir gelesen haben. Lieblingsorte in der Stadt. Musik, die tröstet. Keine Fragen nach dem Innenleben. Keine unausgesprochenen Erwartungen. Und doch: Unter jedem Satz schwingt etwas mit. Eine stille Einladung. Ein Versprechen, dass Raum da ist, wenn ich ihn brauche. Als ich später den Schal wieder um den Hals wickle und mich verabschieden will, fragt Luise: „Möchtest du… vielleicht mal einen Spaziergang machen? Irgendwann? Ohne Ziel, einfach laufen?“ Ich überlege kurz. Fühle die Stimmen in mir.

„Draußen kann man atmen, wenn Worte schwer werden.“

„Und draußen sieht niemand, wenn wir wechseln.“

Ich lächle ein wenig. „Ja. Irgendwann. Vielleicht bald.“ Luise nickt. Kein Drängen. Nur ein stilles Verstehen.

Als ich auf die Straße trete, ist der Himmel noch immer grau. Aber etwas in mir fühlt sich heller an. Keine blendende Sonne. Kein dramatisches Aufreißen der Wolken. Nur ein sanftes Licht, das reicht, um den nächsten Schritt zu sehen. Vielleicht reicht genau das.

Kapitel 9 – Zwischen Atemzügen

Es ist eine Woche später, als ich Luise schreibe. „Wollen wir morgen spazieren gehen? Vielleicht am Fluss?“ Die Antwort kommt schnell. „Sehr gern. Ich bringe Kekse.“ Ich muss lachen. Leise. Innen. Kein Lachen, das ausbricht, sondern eines, das zwischen den Rippen sitzt wie warmer Atem.

„Vielleicht dürfen wir doch ein bisschen mehr sein.“

Der nächste Morgen ist kühl, aber freundlich. Die Straßen glänzen noch feucht vom nächtlichen Regen, und der Himmel trägt diese milchige Farbe, die wir so gut kennen. Ich ziehe den dicken Schal enger um meinen Hals, schiebe die Hände tief in die Taschen und gehe los. Keine Musik in den Ohren, keine Eile in den Schritten. Luise wartet schon am Flussufer. Eine Thermoskanne unter dem Arm, eine kleine Tüte in der anderen Hand. Sie lächelt, als sie mich sieht, und dieses Lächeln ist wie eine Einladung, keine Pflicht.
„Hallo“, sagt sie. „Hallo“, antworte ich.

Wir gehen los. Keine Richtung, kein Ziel. Nur der Fluss, der träge neben uns herfließt, und unsere Schritte, die den Kies unter den Sohlen knirschen lassen. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich gehe, ohne mich vor dem Gehen zu fürchten.

„Hier können wir atmen.“

Die Kreative, leise, fast staunend.

„Hier sieht uns niemand. Hier ist nur Jetzt.“

Das Kind, ein Flüstern, das sich vorsichtig in die Stille legt.

Eine Weile reden wir nicht. Es gibt kein Bedürfnis, die Lücken zu füllen. Das Wasser glitzert unter dem blassen Licht, und irgendwo zwischen unseren Schritten spannt sich eine dünne, aber tragende Brücke aus Verständnis. Luise bleibt irgendwann stehen. Öffnet die Tüte, reicht sie mir. Drin liegen kleine, runde Zimtkekse. Kein Perfektsein, kein Hochglanz – sondern echt, wie etwas, das mit Herz statt mit Perfektion gemacht wurde. „Selbst gebacken“, sagt sie. Ich nehme einen. Der Geschmack von Zimt und Zucker breitet sich auf meiner Zunge aus, und für einen Moment ist da nur Wärme. Keine Erinnerungen, die beißen. Nur ein stilles Sein. „Danke“, sage ich.

„Vielleicht ist Vertrauen nicht immer ein Sprung. Vielleicht ist es manchmal ein Schritt.“

Ich weiß nicht, ob ich es gedacht habe oder ob es jemand in mir geflüstert hat. Vielleicht macht es keinen Unterschied. Vielleicht ist das gerade das Schöne daran.
Wir laufen weiter, reden über kleine Dinge. Bücher, die wir nie zu Ende gelesen haben. Orte, an die wir irgendwann reisen wollen. Träume, die nicht groß sein müssen, um echt zu sein. Und manchmal schweigen wir, aber es fühlt sich an, als würde auch das Schweigen atmen. Als wir uns später verabschieden, sagt Luise: „Wenn du irgendwann reden willst – oder schweigen – ich bin da.“ Ich nicke. Nicht weil ich müsste. Sondern weil ich es wirklich will. Auf dem Heimweg spüre ich keine Schwere. Keine Erschöpfung. Nur ein leises Pulsieren unter der Haut. Leben. Verbindung. Keine riesige Veränderung, aber ein kleiner, echter Riss im alten Beton. Vielleicht ist das der Anfang, den wir nie gesucht haben. Aber den wir trotzdem brauchen.

Kapitel 10 – Wo Licht Linien zieht

Später, zu Hause, sitze ich auf dem Teppichboden, den Rücken gegen die Couch gelehnt. Die Tasse Tee in meinen Händen ist längst kalt geworden, aber ich halte sie trotzdem fest. Manchmal braucht es etwas in den Händen, um die Gedanken nicht davonfliegen zu lassen. Es ist still. Nicht außen. Innen.

„Wir sind noch da.“

Die Wächterin. Wach. Ruhig. Keine Warnung diesmal. Nur Feststellung.

Ich schließe die Augen. Lasse die Welt draußen verblassen und sinke in diesen Zwischenraum, den wir die Schwelle nennen. Der Raum ist heute anders. Heller. Nicht grell, nicht blendend. Aber irgendwo zwischen den vertrauten Schatten ziehen sich dünne Linien aus Licht. Wie Risse in einem alten Gemäuer, durch die jetzt vorsichtig Morgen dämmert. Ich spüre sie. Die Wächterin steht an ihrem gewohnten Platz, die Arme locker verschränkt. Sie beobachtet, aber ihre Haltung ist weicher geworden. Das Kind sitzt auf dem Boden, ein paar Meter entfernt. Es hält das Stofftier in den Händen und malt Kreise auf den imaginären Boden. Immer wieder. Aber diesmal nicht hektisch, sondern ruhig. Verträumt. Die Kreative lehnt an einer gedachten Wand, zeichnet mit dem Finger Lichtmuster in die Luft. Linien, die manchmal Wellen formen, manchmal Sterne. Und dann – ein Flirren am Rand. Zart. Zögernd. Fast, als hätte jemand das Flackern einer Erinnerung in eine Bewegung übersetzt. Ich weiß, wer es ist. Der Trauma-Anteil. Er tritt nicht hervor. Aber er bleibt sichtbar. Kein gänzliches Zurückweichen mehr. Nur ein leises Dasein. Ein Erlauben.

„Du musst nicht reden.“

Ich denke es. Oder flüstere es. Oder träume es. Es spielt keine Rolle.

„Aber du darfst. Immer. Wenn du willst.“

Eine Weile passiert nichts. Nur dieses stille Teilen des gleichen Raumes. Dann ein kaum wahrnehmbares Nicken. Kein Versprechen. Kein Bruch. Einfach ein kleines Zeichen: Ich höre euch. Ich öffne die Augen. Das Wohnzimmer ist noch das gleiche. Der Tee ist noch kalt. Aber ich bin nicht mehr dieselbe, die ihn eingeschenkt hat.

„Vielleicht ist das, was Heilung bedeutet. Nicht, dass alles verschwindet. Sondern dass wir zusammen bleiben. Selbst wenn es weh tut.“

Ich schreibe es auf. In unser Buch. In großen, schiefen Buchstaben, die mehr fühlen als formulieren. Dann lehne ich den Kopf zurück, schließe noch einmal die Augen und atme. Langsam. Bewusst. Da.

Und innen? Atmen viele. Nicht in Angst. Sondern in einem Anfang.

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