Gesellschaft & Trauma – Der blinde Fleck einer ganzen Kultur
Triggerwarnung: Gesellschaft & trauma. In diesem Artikel geht es um gesellschaftliche Traumadynamiken, Tabus und strukturelle Gewalt.
Wir leben in einer Gesellschaft, die Traumafolgen täglich produziert und sie gleichzeitig systematisch ausblendet. Trauma ist kein Randthema. Es ist mittendrin: in Biografien, Schulfluren, Behördenbriefen, Therapiewartelisten und gesenkten Blicken. Und trotzdem wird es oft ignoriert, kleingeredet, pathologisiert oder nur dort „anerkannt“, wo es ins System passt.
Diese Spannung, zwischen Präsenz und Verdrängung, bewegt uns. Und sie ist der Auslöser für diese Blogparade und den Artikel.
Wenn eine Gesellschaft lieber schweigt
Trauma ist unbequem. Es stört die Ordnung, es durchkreuzt die Vorstellung von Kontrolle, von Sicherheit, von „normalem“ Leben. Kein Wunder, dass viele lieber wegsehen. Dass so oft nicht gefragt wird, woher Schmerz kommt, sondern nur, wie schnell man wieder funktioniert.
Wir leben mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur. Unser Alltag ist durchzogen von den Spuren früher Traumatisierung und von den Nachwirkungen gesellschaftlicher Ignoranz. Denn das, was uns am meisten verletzt hat, war nicht nur das Trauma selbst. Es war das Danach. Das Unsichtbarwerden. Das Nicht-glauben. Das Pathologisieren. Das Verstummen.

Gesellschaft & Trauma: Zwei Seiten einer Medaille
Wir erleben es immer wieder: Wenn wir von unserer DIS-Struktur erzählen, kommt oft eine Mischung aus Faszination, Skepsis und Angst. Nicht, weil wir gefährlich sind. Sondern weil wir etwas verkörpern, das viele lieber ausblenden.
Dass Traumatisierung überall passieren kann. Dass sie jeden treffen kann. Und dass sie nicht einfach „wegtherapiert“ wird, sondern ein Leben lang begleitet.
Wir verkörpern etwas, das Angst macht, weil es den Mythos der Kontrolle stört. Der Vorstellung, dass Trauma nur denen passiert, die „nicht aufgepasst haben“, die „am falschen Ort waren“, die „schwach“ sind. Wir zeigen: Trauma ist keine Frage von Schuld. Sondern eine Frage von Machtverhältnissen. Und deren Folgen.
Es ist unbequem, sich einzugestehen, dass diese Gesellschaft nicht nur versagt hat, wenn es um Schutz geht. Sondern auch beim Anerkennen der Folgen. Denn: Trauma wird zwar medizinisch untersucht, aber gesellschaftlich verdrängt. Es wird individualisiert, privatisiert, pathologisiert, aber selten politisiert. Dabei ist es zutiefst politisch.
Wenn Überlebensstrategien als Störung gelten und nicht als Kompetenz. Wenn Menschen mit komplexen Traumafolgen ständig erklären müssen, dass sie keine Sensation, sondern Realität sind. Wenn wir erleben, wie Geschichten „interessant“ sind, solange sie konsumierbar bleiben. Dann zeigt sich: Die Gesellschaft ist nicht nur der Ort, an dem Trauma passiert. Sie ist auch der Ort, an dem es abgestritten, beschämt, bagatellisiert oder vermarktet wird.
Und genau da beginnt unsere Wut. Und gleichzeitig unser Engagement.
Die eigentliche Störung: das gesellschaftliche Unvermögen, hinzusehen
Es ist bezeichnend, dass viele Menschen mit einer DIS-Struktur nicht an ihren inneren Realitäten verzweifeln – sondern an den äußeren. An einem Gesundheitssystem, das auf Diagnosen fixiert ist, aber keine Zeit hat zuzuhören. An Bildungseinrichtungen, die Leistung fordern, aber keine Sicherheit bieten. An Medien, die Trauma als Plot-Twist nutzen, aber nie als soziale Verantwortung.
Was uns zusätzlich trifft: Die Doppelmoral.
Wenn Menschen mit körperlichen Erkrankungen als „tapfer“ gelten und wir als „nicht belastbar“. Wenn Empathie dort endet, wo die Erzählung zu komplex wird. Wenn unsere Schutzreaktionen als „Drama“ abgetan werden, obwohl sie das Ergebnis systematischer Überforderung sind.
Wir fragen uns:
Wer wird in dieser Gesellschaft eigentlich gehört? Wem wird geglaubt? Wer darf zerbrechlich sein und wer gilt sofort als „gestört“? Und wer bestimmt das überhaupt?
Was wir erleben, ist kein individuelles Versagen. Es ist ein kollektives Nicht-Hinschauen. Ein strukturelles Schweigen. Und ein massives Unwissen darüber, wie viel Mut es kostet, jeden Tag trotzdem weiterzumachen.
Wir sagen es deutlich:
Das Problem sind nicht wir. Das Problem ist eine Gesellschaft, die Verletzlichkeit als Makel betrachtet und Überlebensstrategien als Symptome. Eine Gesellschaft, die Komplexität scheut und Anpassung belohnt. Eine Gesellschaft, die uns verändern will, anstatt sich selbst zu hinterfragen.

Wir sind nicht „die Anderen“: wir sind mittendrin
DIS-Menschen gibt es nicht nur im Fernsehen, in Akten oder in Spezialkliniken. Wir sind Kolleg:innen, Nachbar:innen, Eltern, Partner:innen, Künstler:innen, Aktivist:innen. Wir sind überall, auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen. Wir sind viele Menschen in einem System, das eine sehr kreative Art gefunden hat, zu überleben.
Unsere Innensysteme sind keine Kuriosität, sondern ein Resultat von massiver Belastung und ein Zeichen dafür, dass Überleben möglich war, auch wenn alles andere versagt hat.
Was viele vergessen:
Die „DIS“ steht nicht für Chaos, sondern für Ordnung unter extremen Bedingungen. Für Schutz. Für Trennung, wo kein Halt war. Für Erinnerung in Bruchstücken, weil Ganzheit zu gefährlich war. Diese Art zu leben ist nicht falsch. Sie ist eine Antwort. Eine Antwort auf etwas, das nie hätte passieren dürfen und auf eine Gesellschaft, die zu lange weggesehen hat.
Wenn wir heute sichtbar werden, dann nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir es können. Weil wir es satt haben, dass über uns gesprochen wird, aber nicht mit uns. Weil wir genug davon haben, dass man uns als Ausnahme sieht, statt als Ausdruck gesellschaftlicher Realitäten.
Wir tragen unsere Geschichte nicht nur im Inneren! Sie ist auch ein Spiegel dieser Gesellschaft. Ein Spiegel, in den viele nicht gerne blicken. Aber einer, der zeigt, was möglich ist: Verbindung. Kreativität. Widerstandskraft. Und die unerschütterliche Fähigkeit weiterzuleben, auch wenn alles dagegensprach.
Gesellschaft & Trauma: psychologische Mechanismen des Wegschauens
Warum fällt es so vielen Menschen schwer, über Trauma zu sprechen? Warum begegnet uns so oft Abwehr, Schweigen oder sogar Schuldumkehr?
Ein Erklärungsansatz liegt in den psychologischen Abwehrmechanismen. Menschen, und Gesellschaften. schützen sich vor unangenehmen Gefühlen, indem sie Realitäten verzerren oder verdrängen. Trauma konfrontiert uns mit Ohnmacht, Kontrollverlust und existenzieller Unsicherheit. Genau das, was unsere Leistungsgesellschaft am wenigsten erträgt.
Verdrängung, Projektion, Bagatellisierung: all das sind Formen, mit denen das kollektive Nervensystem versucht, sich zu schützen. Nur: Dieser „Schutz“ geht auf Kosten derer, die das Unsagbare erlebt haben. Wer sich dem Schmerz verweigert, zwingt ihn den anderen auf.
Außerdem steht die Konfrontation mit Trauma in direktem Konflikt zu gesellschaftlichen Narrativen: Wer sich „zusammenreißt“, wer „stark“ ist, wird belohnt. Wer leidet, wird misstrauisch beäugt oder entwertet. Und wer sich sichtbar macht, wird oft pathologisiert, weil das einfacher ist, als sich mit dem eigenen Anteil am System auseinanderzusetzen.
Es geht hier also nicht nur um individuelle Reaktionen. Es geht um ein kollektives Vermeidungsverhalten. Ein emotionales Wegschauen, das strukturell unterstützt wird. Denn eine Gesellschaft, die sich mit Trauma ehrlich auseinandersetzt, müsste vieles hinterfragen: Machtverhältnisse, Ungleichheit, Gewaltgeschichte, Erziehungsideale, Leistungsethik.
Deshalb bleibt die Auseinandersetzung mit Trauma unbequem, aber notwendig. Und sie beginnt mit einem einfachen, ehrlichen Schritt: Hinsehen. Zuhören. Und aushalten, was ist.

Was sich ändern muss: und warum es uns alle angeht
Es reicht nicht, dass Einzelne „traumasensibel“ sind. Es braucht eine tiefgreifende Veränderung in Bildung, Politik, Gesundheit, Sprache. Traumakompetenz darf kein Spezialwissen bleiben, sie muss zum gesellschaftlichen Grundverständnis gehören.
Wir brauchen:
- Mehr Räume, in denen Menschen erzählen dürfen, ohne bewertet zu werden
- Sprache, die verbindet, statt ausgrenzt
- Systeme, die nicht fragen: „Was stimmt nicht mit dir?“, sondern: „Was ist dir passiert?“
- Und Menschen, die den Mut haben, ihre eigenen blinden Flecken zu hinterfragen
Denn eins ist klar:
Solange Trauma tabuisiert wird, bleibt Heilung ein Kampf.
Nicht nur individuell, sondern kollektiv.
Und diese kollektive Heilung braucht Zeit. Sie braucht Reibung. Sie braucht Stimmen, die unbequem sind, aber notwendig. Sie braucht Menschen, die nicht länger versuchen, sich an eine krankmachende Norm anzupassen, sondern neue Maßstäbe setzen. Für Verbindung, Fürsorge und psychische Integrität.
Gesellschaftlicher Wandel passiert nicht auf Knopfdruck. Aber er beginnt genau dort, wo jemand sagt: „Ich sehe dich.“ Und bereit ist, nicht gleich wegzulaufen, wenn das Gegenüber nicht ins Bild passt. Wir alle können Teil dieser Veränderung sein. Nicht perfekt, aber ehrlich, neugierig und menschlich.
Gesellschaft & Trauma gehören zusammen: ob wir wollen oder nicht
Es ist Zeit, dass wir Verantwortung übernehmen. Für das, was war. Für das, was ist. Und für das, was möglich ist. Nicht, indem wir in Angst erstarren. Sondern indem wir endlich anfangen, zu sprechen. Uns zu vernetzen. Zu fühlen. Und uns gegenseitig zu glauben. Denn erst wenn wir Trauma nicht mehr als Ausnahme betrachten, sondern als Teil unserer kollektiven Realität, kann echte Veränderung beginnen.
Was seht ihr, wenn ihr hinschaut?
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Wir freuen uns 🦋
Ein Gedanke von mir dazu, ungesichert, kommt mir nur gerade in den Sinn: Am Anfang der Traumaforschung wurden Kriegstraumatisierte, die Kriegszitterer, noch mit Empathie behandelt, als Menschen, die durch unerträgliche Umstände gegangen sind und nun mit den Folgen auf ihre Art leben mussten. Dann stellte man fest, dass das aber die Kriegseuphorie der Jungs, die noch keine Fronterfahrungen hatten machen müssen, deutlich bremste: Die bisher so attraktive Möglichkeit, als strahlender Held von der Front zurückzukehren wurde überschattet von der Gefahr, dort gebrochen zu werden. Von dem Moment an wurde das Narrativ geändert: Es gab keine Kriegstraumatisierten. Das traf nur jene, die schon vorher zu schwach waren. Im schlimmsten Fall wurden sie als Kriegsdienstverweigerer ins KZ gesteckt. Also: Das Trauma wurde zum Todesurteil. Das Töten psychisch Kranker folgt dieser Logik. Damit wurden Trauma und Traumafolgen zur tödlichen Gefahr. Und wir – unsere Vorfahren ebenso wie wir heute – spalten wie verrückt (im wahrsten Sinne des Wortes) alles, was uns an unsere eigene Schwäche erinnert, weit von uns ab. Weil wir daran unser Lebensrecht knüpfen. Ich glaube, das prägt uns sehr.
Ein wirklich guter, wichtiger Artikel, der es auf den Punkt bringt