Selbstbestimmung mit DIS – Was bedeutet das für uns?
Wir haben diese Blogparade gesehen und hatten direkt tausende von Gedanken im Kopf! Also heißt es wohl: Gedanken sortieren und in einen Blogartikel zu packen ☺️ Unser Beitrag zur Blogparade von Sandra Hoppenz: „Selbstbestimmung – Was bedeutet das für dich?“
Selbstbestimmung ist ein großes Wort. Eines, das Mut macht. Aber auch eines, das verletzen kann, wenn es fehlt. Für viele Menschen ist Selbstbestimmung eng mit Freiheit, Teilhabe und Würde verbunden. Für uns als Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS) ist es mehr als das: Es ist ein Weg zurück zu etwas, das uns oft sehr früh genommen wurde. Und etwas, das wir uns nun, Schritt für Schritt, zurückholen.
Was Selbstbestimmung für uns bedeutet
Selbstbestimmung klingt so selbstverständlich. Ein Menschenrecht. Eine Grundlage für Entwicklung, Würde, Lebensfreude. Doch für uns als Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS) ist Selbstbestimmung kein Ausgangspunkt, sondern ein Ziel. Eines, das oft mit Umwegen, inneren Aushandlungen und gesellschaftlichen Hürden verbunden ist.
Wir schreiben diesen Beitrag nicht aus einer Position der „vollständigen Selbstbestimmtheit“. Sondern als Menschen auf dem Weg. Mit vielen Stimmen. Mit Erfahrungen von Ohnmacht, Anpassung, Kontrolle. Aber auch mit wachsender Klarheit darüber, was Selbstbestimmung für uns bedeuten kann.

Wenn Selbstbestimmung früh verloren geht
Viele von uns haben in der Kindheit gelernt: „Dein Wille zählt nicht. Deine Bedürfnisse sind gefährlich. Deine Grenzen interessieren niemanden.“ Gewalt, Missbrauch, Manipulation oder emotionaler Entzug schaffen eine Realität, in der Fremdbestimmung zur Normalität wird.
In so einer Umgebung entstehen oft DIS-Strukturen: als Schutz. Als kreative, oft lebensrettende Reaktion auf das Unerträgliche. Aber mit dieser Struktur kommen auch neue Herausforderungen, wenn es um Selbstbestimmung geht. Denn wer bestimmt, wenn viele da sind? Und wie kann man Entscheidungen treffen, wenn Vertrauen ins eigene Erleben jahrzehntelang systematisch zerstört wurde?
DIS-Struktur & Selbstbestimmung – eine besondere Dynamik
In uns leben unterschiedliche Persönlichkeiten. Jede mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Bedürfnissen, Erinnerungen, Meinungen. Entscheidungen zu treffen, bedeutet für uns: Gespräche führen. Rücksicht nehmen. Manchmal auch ringen.
Selbstbestimmung heißt dann nicht nur „Ich will“, sondern „Wir wollen“. Und das heißt manchmal: innehalten, verhandeln, neue Wege suchen. Auch Konflikte aushalten. Und lernen, dass niemand allein durchdrücken muss.
Diese innere Aushandlung ist mühsam. Aber sie ist auch etwas sehr Starkes. Denn wenn es gelingt, entsteht etwas, das viele nie kennengelernt haben: Ein echtes, gemeinsames Mitbestimmen. Ohne Angst. Ohne Gewalt. Mit Vertrauen.
Dabei erleben wir auch, wie unterschiedlich Selbstbestimmung aussehen kann. Manche von uns brauchen viel Struktur, andere Freiheit. Manche wollen laut werden, andere lieber zuhören. Was für eine Person Sicherheit bedeutet, kann für eine andere Stress auslösen. Das macht Entscheidungen nicht immer einfacher, aber ehrlicher. Und genau darin liegt für uns auch ein tiefer Wert: Dass alle Stimmen Raum bekommen. Dass es keine „falsche“ Art gibt, da zu sein. Und dass Selbstbestimmung auch bedeutet, Unterschiedlichkeit zu würdigen, statt sie glattzubügeln.
Wir lernen täglich neu, was es heißt, Verantwortung zu teilen. Nicht im Sinne von „alle müssen immer mitreden“, sondern im Sinne von: Wir achten aufeinander. Wir entwickeln ein Gefühl dafür, wann es gut ist, gemeinsam zu entscheiden und wann Vertrauen genügt, dass eine oder mehrere von uns gerade für das Ganze handeln können. Diese Balance ist nicht leicht, aber sie ist lebendig. Und sie schenkt uns die Erfahrung, dass Selbstbestimmung nicht Einsamkeit bedeutet, sondern Verbindung.
Unser Weg zu mehr Selbstbestimmung
Für uns begann Selbstbestimmung im Kleinen. Beim Einkaufen. Beim Nein-Sagen. Beim Akzeptieren von Pausen. Es ging nicht um große Lebensentscheidungen, sondern um überhaupt wieder zu spüren, was wir wollen. Wer wir sind. Und dass das zählen darf.
Unterstützung spielte dabei eine große Rolle. Therapie, Austausch mit anderen DIS-Menschen, Verständnis von engen Bezugspersonen. All das hat uns geholfen, innere Stimmen ernst zu nehmen und eigene Entscheidungen zu wagen. Selbstbestimmung braucht oft auch Sicherheit. Und die entsteht nicht allein.
Manche Schritte waren fast unsichtbar. Ein anderer Tagesrhythmus. Ein Kleidungsstück, das jemand in unserem System zum ersten Mal selbst gewählt hat. Ein Spaziergang allein, obwohl die Angst groß war. Jedes kleine „Ich darf das jetzt“ war wie ein Türspalt, durch den ein Stück Freiheit drang.
Manchmal kam Selbstbestimmung auch durch Reibung: durch Widerspruch gegen Diagnosen, gegen Bevormundung, gegen die Vorstellung, wie wir „funktionieren sollten“. Gerade diese Konflikte haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, für die eigene Wahrheit einzustehen, auch wenn sie unbequem ist.
Heute wissen wir: Wir müssen nicht eigenständig sein, um selbstbestimmt zu leben. Aber wir brauchen Räume, in denen wir mitreden dürfen. Und Strukturen, die unsere Vielfalt nicht als Störung, sondern als Realität anerkennen. Selbstbestimmung bedeutet für uns auch, zu wählen, wem wir uns zeigen und wie viel. Es bedeutet, die eigene Geschichte zu erzählen, ohne sie erklären oder rechtfertigen zu müssen. Und manchmal bedeutet es schlicht: in Ruhe gelassen zu werden.
Und das alles war und ist für uns nur möglich, weil wir endlich die DIS verstehen wollen, statt sie zu leugnen, aus gutem Grund.

Gesellschaftliche Hindernisse & unser Widerstand
Selbstbestimmung endet nicht an der inneren Tür. Sie wird tagtäglich durch äußere Faktoren beeinflusst: Vorurteile, Unwissen, entmündigende Haltungen. Wenn Menschen mit DIS nicht ernst genommen werden, keine Wahlmöglichkeiten bekommen oder Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden, ist das strukturelle Fremdbestimmung.
Diese äußere Fremdbestimmung kann ganz unterschiedlich aussehen: Zwang in der Psychiatrie. Misstrauen von Ärzt:innen oder Ämtern. Hilfestrukturen, die Hilfe nur gegen Unterwerfung anbieten. Medienberichte, die uns zu Extremen machen oder unsichtbar lassen. Immer wieder geht es um die Frage: Wer hat das Recht, über uns zu sprechen? Wer darf entscheiden, was für uns gut ist?
Wir haben gelernt, dass Selbstbestimmung auch bedeutet, diese Systeme zu hinterfragen. Nicht leise zu bleiben, wenn uns die Stimme genommen werden soll. Uns zu vernetzen. Erfahrungswissen zu teilen. Uns gegenseitig zu bestärken, damit niemand allein gegen all das stehen muss.
Wir wehren uns dagegen. Mit Worten. Mit Aufklärung. Mit Vernetzung. Denn Selbstbestimmung ist kein Bonus, sondern ein Menschenrecht. Auch für Menschen mit komplexer Biografie, mit multipler Innenwelt, mit Narben. Und dieses Recht nehmen wir uns, jeden Tag ein bisschen mehr.
Unser Selbstverständnis als Selbst-bestimmte
Heute spüren wir Selbstbestimmung in Momenten, in denen wir gemeinsam lachen. Uns gegenseitig zuhören. Entscheidungen fällen, die uns gut tun. Nicht perfekt. Nicht immer reibungslos. Aber echt.
Wir glauben: Selbstbestimmung ist ein Prozess. Kein Zustand. Und wir laden euch ein, mit uns darüber nachzudenken:
Was bedeutet Selbstbestimmung für euch?
Kommentiert gerne eure Gedanken, wir freuen uns auf Austausch 🦋
Liebe Nikas 🙌🏻 So schön, dass ihr an meiner Blogparade teilgenommen habt. Das ist so ein toller und wertvoller Artikel geworden. So wichtig!
Vor allem wir ihr schreibt: „Für viele Menschen ist Selbstbestimmung eng mit Freiheit, Teilhabe und Würde verbunden. Für uns als Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS) ist es mehr als das: Es ist ein Weg zurück zu etwas, das uns oft sehr früh genommen wurde. Und etwas, das wir uns nun, Schritt für Schritt, zurückholen.“ hat mich sehr berührt.
Danke dafür 🙏🏻 herzlichst, Sandra