Was ist eigentlich Identität? – Und bei DIS-Menschen?
Identität ist ein zentrales Thema im Leben jedes Menschen. Sie gibt uns ein Gefühl von Beständigkeit und Orientierung, während sie sich gleichzeitig im Laufe der Zeit wandelt. Doch was genau ist Identität? Und wie unterscheidet sie sich zwischen singulären Menschen und Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstruktur (DIS-Systemen)? In diesem Artikel betrachten wir die verschiedenen Facetten und zeigen auf, wie sie sich in diesen beiden Erfahrungswelten ausdrücken kann.
Definition von Identität
Identität wird oft als die Gesamtheit der Merkmale verstanden, die eine Person einzigartig machen. Dazu gehören unter anderem:
- Erinnerungen und Erfahrungen
- Werte und Überzeugungen
- Soziale Rollen und Beziehungen
- Selbstbild und Selbstwahrnehmung
Sie ist also nichts Statisches, sondern entwickelt sich im Laufe des Lebens weiter und wird geprägt durch soziale Interaktionen, kulturelle Einflüsse und persönliche Erfahrungen. Auch Krisen, neue Erkenntnisse oder bedeutende Lebensereignisse können Identität herausfordern oder verändern, was zeigt, dass sie ein dynamischer Prozess ist.
Identität bei singulären Menschen
Bei singulären Menschen entwickelt diese sich meist als eine zusammenhängende, kontinuierliche Erfahrung, die sich im Laufe des Lebens festigt und weiterentwickelt. Entwicklungspsychologisch betrachtet, beginnt die Bildung bereits in der frühen Kindheit und verläuft über verschiedene Stadien, wie sie etwa Erik Erikson in seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung beschreibt. Nach Erikson ist die Identität der Schnittpunkt zwischen dem, was du sein willst, und dem, was die Welt dir gestattet zu sein. Diesen Schnittpunkt bildest du dabei durch die Bewältigung der phasentypischen Konflikte.
Um dir die Konflikte in den bestimmten Phasen nochmal detaillierter anzuschauen, klicke einfach auf das Bild.
In diesem Artikel möchten wir vor allem den Blick auf die Bildung der Identität legen.
- In der frühen Kindheit (0-3 Jahre) entsteht durch Bindung zu Bezugspersonen ein erstes Gefühl von Vertrauen und Sicherheit, das eine Basis für das Identitätsgefühl bildet.
- In der Kindheit und Jugend (3-18 Jahre) entwickeln sich durch soziale Interaktionen, Schule und familiäre Strukturen Werte, Rollenverständnisse und ein zunehmendes Selbstbild.
- Im Jugendalter (12-20 Jahre) durchläuft die Identität oft eine Phase der Exploration und Konsolidierung. Jugendliche probieren verschiedene Rollen aus, entwickeln individuelle Überzeugungen und beginnen, ein kohärentes Selbstbild zu formen.
- Im Erwachsenenalter (ab 20 Jahre) stabilisiert sich die Identität weiter und entwickelt sich durch Erfahrungen, Beziehungen und berufliche Einflüsse.
Identität bleibt dennoch nicht unveränderlich: Durch neue Erfahrungen, Krisen oder persönliche Weiterentwicklung kann sie sich im Laufe des Lebens wandeln. Jedoch bleibt bei singulären Menschen meist das Gefühl eines durchgängigen, beständigen „Ich-Seins“ erhalten. Die Vergangenheit wird als eine zusammenhängende Biografie erlebt, und Erinnerungen sind linear verankert. Soziale Rollen und Verhaltensweisen können sich je nach Kontext anpassen, entstammen aber einem Kernselbst, das als konstant wahrgenommen wird.
Identität bei Systemen (Menschen mit DIS)
In einem System mit DIS ist Identität komplexer und oft fragmentierter. Während singuläre Menschen eine durchgängige Biografie mit einer festen Identitätsentwicklung erleben, besteht Identität in einem System aus mehreren Teilidentitäten, die unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen in sich tragen können.
- Statt eines einzelnen, konsistenten Selbst existieren mehrere Identitätsanteile oder „Innenpersonen“, die individuelle Erinnerungen, Persönlichkeitsmerkmale und Wahrnehmungen haben.
- Das Selbstgefühl ist nicht konstant, sondern kann durch „Switchen“ wechseln. Dadurch kann es sich anfühlen, als ob unterschiedliche Personen zu verschiedenen Zeiten die Kontrolle übernehmen.
- Während singuläre Menschen ein zusammenhängendes Identitätsgefühl haben, kann es in einem System, je nach Kommunikationsgrad zwischen den Innenpersonen, große Unterschiede in der Selbstwahrnehmung geben.
Entwicklungspsychologisch betrachtet, kann Identität in einem System als ein Netzwerk von Identitäten gesehen werden, das durch frühe Traumata und Schutzmechanismen entstanden ist. Während singuläre Menschen durch soziale Interaktion und kontinuierliche Erfahrung eine feste Identität entwickeln, spaltet sich diese Entwicklung in einem System in verschiedene Identitätsstrukturen auf, um bestimmte Erlebnisse zu bewältigen und, um zu überleben.
Das Erleben von Identität ist daher fluide und kann stark variieren. Manche Systeme entwickeln eine gemeinsame, übergeordnete Identität, während andere ihre Innenpersonen als eigenständige Individuen mit eigenen Werten, Vorlieben und Lebensgeschichten erleben.
Herausforderungen und Chancen
Da unsere Gesellschaft stark von einem singulären Identitätskonzept geprägt ist, können Systeme auf Unverständnis stoßen. Fragen wie „Wer bist du wirklich?“ oder Erwartungen an ein konsistentes Selbstbild können herausfordernd sein. Während singuläre Menschen meist als eine kohärente, über Zeit hinweg stabile Identität wahrgenommen werden, erscheint Identität in einem System für Außenstehende oft als uneinheitlich oder wechselhaft. Dies kann zu Missverständnissen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten führen, insbesondere wenn Systeme nicht als das anerkannt werden, was sie sind.
Vergleich zwischen singulären Menschen und Systemen
Herausforderung | Singuläre Menschen | Systeme |
---|---|---|
Erwartung an Konsistenz | Identität bleibt über Zeit hinweg relativ stabil | Identität kann durch Switching stark variieren |
Soziale Interaktion | Anderen fällt es leichter, eine Person als durchgängig gleich zu erleben | Unterschiedliche Außenwahrnehmung je nach Innenperson kann zu Verwirrung führen |
Selbstbild | Einheitlich, trotz wachsender Reife und Erfahrung | Kann fragmentiert sein oder aus mehreren, individuellen Identitäten bestehen |
Gesellschaftliche Akzeptanz | Wird als „normal“ angesehen | Kann auf Skepsis, Ablehnung oder Unverständnis stoßen |
Trotz dieser Herausforderungen bietet ein System auch viele Chancen:
- Vielfältige Perspektiven: Mehrere Identitäten innerhalb eines Systems ermöglichen eine differenzierte Sichtweise auf die Dinge, was zu tiefem Verständnis und Empathie führen kann.
- Kreative Flexibilität: Verschiedene Identitätsanteile können jeweils individuelle Talente, Denkweisen und kreative Ausdrucksformen haben.
- Resilienz durch Anpassungsfähigkeit: Systeme haben oft ausgeprägte Fähigkeiten zur Bewältigung schwieriger Situationen, indem verschiedene Identitätsanteile spezifische Herausforderungen übernehmen.
- Bewusste innere Kommunikation: Wenn Innenpersonen miteinander kooperieren und kommunizieren, kann eine harmonische und funktionale Zusammenarbeit entstehen, die ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl fördert.
Das Verständnis dieser Unterschiede und Potenziale kann helfen, Diskriminierung und Stigmatisierung zu reduzieren und die Vielfalt von Identität in unserer Gesellschaft besser zu akzeptieren und wertzuschätzen.
Fazit: Identität als Spektrum
Identität ist ein vielschichtiges und dynamisches Konzept, das sich sowohl bei singulären Menschen als auch in Systemen auf unterschiedliche Weise ausdrückt. Während singuläre Menschen eine durchgängige Identität erleben, kann Identität in einem System fragmentierter und flexibler sein. Diese Unterschiede führen häufig zu gesellschaftlichen Missverständnissen, aber sie bergen eben auch viele Stärken und Potenziale.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Identität nicht immer eine lineare, festgelegte Entwicklung durchläuft, sondern individuell erlebt wird. Systeme zeigen, dass Identität facettenreich sein kann, ohne dass eine einzige, starre Definition nötig ist. Vielmehr sollten Vielfalt und Individualität anerkannt und respektiert werden.
Eine offene und wertschätzende Haltung gegenüber verschiedenen Identitätsformen kann dazu beitragen, Barrieren abzubauen und ein tieferes Verständnis für die Erfahrungen anderer zu entwickeln. Indem wir Identität als ein Spektrum betrachten, das sich über die gesamte menschliche Erfahrung erstreckt, schaffen wir Raum für mehr Akzeptanz, Inklusion und gegenseitiges Verständnis.
Die Frage, die uns dabei immer wieder in den Kopf kommt:
Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass unterschiedliche Identitätsformen besser verstanden und akzeptiert werden?
Um diesen Artikel zu verstehen, musste ich mich erstmal mit den Begrifflichkeiten auseinandersetzen, die ihr sehr gut erklärt. Danke für diese aufschlussreichen Erläuterungen, ich habe mir bisher noch nie Gedanken darüber gemacht. Ich finde es toll, wie ihr diese Einblicke in eure Persönlichkeit bietet, es hat meinen Horizont sehr erweitert.
Vielen lieben Dank Claudia für deinen Kommentar 🙂
Wir haben auch ein Nachschlagewerk erstellt, das wir stetig erweitern, um bestimmte Begriffe nachlesen zu können, aber bis da alle drin sind, dauert es wahrscheinlich auch ein bisschen 😅
Liebe Grüße und danke für die lieben Worte!
Nika
Ein komplexes Thema klasse und verständlich dargestellt und sowas von “am Rad der Zeit” . Vielen Dank, dass ich das lesen konnte.
Herzlich, Keike
Bueeenos días Keike,
danke für deinen Kommentar 🙂 Ja es ist am Rad der Zeit, das Thema Identität, da geben wir dir recht!
Freut uns, dass es verständlich ist, was wir geschrieben haben!
Viele Grüße
Nika 🦋