Was ist systemfreundliche Kommunikation?
Systemfreundliche Kommunikation. Was soll das eigentlich sein?
Noch nie gehört? Dann wird’s Zeit! In diesem Artikel erklären wir euch, was hinter diesem Begriff steckt, warum er für DIS-Menschen so hilfreich ist und wie ihr als Freund:innen, Kolleg:innen, Fachpersonen oder Begleitende wirklich einen Unterschied machen könnt.
Denn: Reden kann jeder. Aber verstanden werden, das ist eine Kunst.
Besonders, wenn man als DIS-System unterwegs ist.
Was ist systemfreundliche Kommunikation?
Systemfreundliche Kommunikation ist mehr als achtsames Reden!
Es ist eine bewusste Haltung. Eine Einladung. Und manchmal auch ein echtes Umdenken.
Der Begriff beschreibt eine Art zu sprechen (und zuzuhören!), die die Vielheit innerhalb eines Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur (DIS) nicht nur mitdenkt, sondern aktiv respektiert. Sie geht davon aus, dass es keine „einzelne Person“ im Gespräch gibt, sondern ein ganzes System. Und dass verschiedene Innies unterschiedlich wahrnehmen, fühlen, sprechen und reagieren können. Manchmal im gleichen Gespräch, manchmal über Tage hinweg.
Systemfreundlich kommunizieren heißt
- anzuerkennen, dass nicht immer alle alles wissen, was gesagt wurde
- Raum zu geben für Wechsel, Pausen oder Klärung
- Fragen so zu formulieren, dass sie inklusiv für mehrere Anteile sind
(„Wie geht es euch heute?“ statt: „Wie geht es dir heute?“) - nicht zu insistieren, wenn eine Antwort fehlt oder widersprüchlich ist
- Grenzen zu achten, auch wenn sie sich mitten im Gespräch verändern
Wir erleben oft, dass Kommunikation an einem entscheidenden Punkt kippt: wenn Außenpersonen sich irritieren lassen Von Erinnerungslücken, von plötzlichen Themenwechseln, von scheinbar „widersprüchlichen“ Aussagen. Das kann verunsichern. Aber genau hier beginnt systemfreundliche Kommunikation. Nicht mit dem Versuch, alles „zu verstehen“. Sondern mit dem Mut, nicht zu bewerten.
Systemfreundlich bedeutet nicht
- jede Persönlichkeit „kennenlernen“ zu müssen
- zu verlangen, dass man „sich erklärt“
- die Kommunikation zu instrumentalisieren („Jetzt nutz doch mal den Erwachsenen-Anteil“)
- DIS zu ignorieren, um „normal“ zu bleiben
Und noch etwas Wichtiges
Systemfreundlich zu kommunizieren bedeutet auch, die Realität von DIS ernst zu nehmen, ohne in Klischees oder Schubladen zu rutschen.
Viele DIS-Menschen erleben das Gegenteil:
Entweder wird ihre Vielheit unsichtbar gemacht („Wir reden hier doch nur mit dir!“)
oder überdramatisiert („Wer bist du denn jetzt wieder?!“).
Beides verletzt. Beides führt zu Rückzug, Scham, Vermeidung.
Systemfreundliche Kommunikation dagegen schafft Verbindung. Sie erlaubt ein Miteinander, das nicht trotz, sondern mit der DIS-Struktur funktioniert. Und das ist eine (Grund-)Haltung von Mitmenschen, die wir unbedingt brauchen.

Was bringt systemfreundliche Kommunikation?
Systemfreundliche Kommunikation ist kein nettes Extra, sie kann für DIS-Menschen lebensverändernd sein. Klingt groß? Ist es auch. Denn wie wir miteinander sprechen, entscheidet darüber, ob ein Raum sicher wird oder nicht. Ob wir uns öffnen können oder innerlich dicht machen. Ob wir als viele angenommen werden oder wieder in die alte Maske rutschen müssen, um „funktional“ zu erscheinen.
Viele von uns kennen beides:
- Gespräche, in denen wir innerlich schrumpfen, uns sortieren, filtern, anpassen und
uns dabei verlieren. - Und dann diese seltenen Begegnungen, in denen wir wirklich „sein“ dürfen, mit all
unseren Stimmen, Unsicherheiten, Sprüngen und Wechseln.
Was ist da anders?
Systemfreundliche Kommunikation ist da. Und sie macht einen Unterschied. Einen spürbaren.
Was konkret bringt systemfreundliche Kommunikation?
1. Weniger inneren Stress
Wenn die Kommunikation so gestaltet ist, dass wir nicht ständig „übersetzen“, „verstecken“ oder „mitdenken“ müssen, fällt innerlich enormer Druck weg. Viele DIS-Menschen erleben Gespräche sonst wie eine Hochseilnummer zwischen „nichts sagen dürfen“ und „zu viel sagen“. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, also systemfreundlich sind, wird Kommunikation leichter, ehrlicher und sicherer.
2. Mehr Klarheit & Vertrauen
Oft denken Außenstehende: „Wenn ihr viele seid, ist doch alles viel komplizierter!“ .
Aber genau das Gegenteil ist der Fall, wenn systemfreundlich gesprochen wird. Dann werden Verantwortlichkeiten im Innen klarer, Missverständnisse seltener und Vertrauen stärker, sowohl im Außen als auch innerhalb des Systems.
3. Bessere Zusammenarbeit
Gerade in Begleitkontexten (Coaching, Therapie, Beratung) ist systemfreundliche Kommunikation der Schlüssel für echte Kooperation. Nicht „Ich helfe dir“, sondern: „Wie können wir gemeinsam mit euch arbeiten?“ Das stärkt die Eigenverantwortung und ermöglicht auch für euch als Fachpersonen mehr Verbindung und Wirksamkeit.
4. Stärkung der Innenkommunikation
Das mag paradox klingen, aber wenn Außenpersonen systemfreundlich kommunizieren, wirkt das auch nach innen. Es entsteht mehr Dialog, mehr gegenseitiges Zuhören, weniger Konkurrenz und ein Gefühl von: „Wir dürfen gemeinsam da sein.“ Das stärkt langfristig Integration und Stabilität.
Was bringt es euch – als Mitmenschen?
Auch für euch als Gegenüber hat systemfreundliche Kommunikation viele Effekte:
- Ihr müsst weniger „raten“, was los ist, weil ehrlicher kommuniziert werden kann.
- Ihr werdet nicht überfordert, weil ihr lernen dürft, nicht alles wissen zu müssen.
- Ihr könnt Verbindung erleben, jenseits von Rollen, Diagnosen oder Kontrolle.
Kurz gesagt: Systemfreundliche Kommunikation macht Beziehung möglich.
Echt, nah, menschlich.

Für wen ist systemfreundliche Kommunikation ideal?
Kurz gesagt: Für euch alle, die mit DIS-Menschen in Beziehung stehen.
Und etwas länger? Für alle, die sich fragen:
- Wie kann ich helfen, ohne zu überfordern?
- Wie bleibe ich in Kontakt, wenn sich mein Gegenüber verändert?
- Wie gehe ich mit Erinnerungslücken, Switching oder „plötzlichen Brüchen“ um?
Ob ihr als Freund:innen, Partner:innen, Kolleg:innen, Coaches, Therapeut:innen oder Familienmitglieder unterwegs seid. Systemfreundliche Kommunikation ist euer Werkzeugkoffer für Beziehung mit Menschen, die mehr sind als eine einzelne Stimme, ein einziger Ausdruck, eine einzige Identität.
Für wen ist sie besonders hilfreich?
1. Für Fachpersonen (Coach, Therapie, Beratung)
Hier ist sie nicht nur ideal, sondern eigentlich Pflicht. Denn ohne systemfreundliche Kommunikation kann keine echte therapeutische Beziehung entstehen.
Viele DIS-Menschen erleben Fachpersonen als gut gemeint, aber schlecht vorbereitet. Aussagen wie „Ich spreche jetzt mal nur mit der Erwachsenen in dir“ oder „Das war doch letzte Woche ganz anders“ wirken zerstörerisch, auch wenn sie nett gemeint sind.
Systemfreundlich zu sprechen heißt: Zuhören ohne Druck, fragen ohne zu verletzen, begleiten ohne zu dominieren.
2. Für Freund:innen & Partner:innen
In engen Beziehungen kann Vielheit besonders herausfordernd wirken, vor allem dann, wenn Nähe, Vertrauen und Alltag zusammentreffen. Systemfreundliche Kommunikation hilft, Verwirrung in Verständnis zu verwandeln.
Ihr müsst dabei nicht jeden Innen kennen oder alles durchschauen. Aber ihr könnt lernen, Fragen offen zu stellen, innere Wechsel mitzutragen und Unsicherheiten anzusprechen, ohne dass es gleich als Ablehnung ankommt.
3. Für Eltern, Lehrer:innen, Bezugspersonen von Kindern & Jugendlichen
Gerade bei jungen DIS-Menschen ist systemfreundliche Kommunikation zentral. Viele Systeme entwickeln in jungen Jahren Strategien, die stark von außen geprägt sind.
Dazu gehört zum Beispiel „So sein, wie man soll“, „Funktionieren um jeden Preis“.
Wenn ihr als Bezugsperson systemfreundlich kommuniziert, gebt ihr etwas unglaublich Wertvolles mit: den Mut, sich zu zeigen und die Erfahrung, nicht falsch zu sein.
4.Für andere DIS-Menschen
Nicht zuletzt ist systemfreundliche Kommunikation auch innerhalb von DIS-Communitys kraftvoll. Gerade weil wir wissen, wie Kommunikation kippen kann, ist es so stärkend, Räume zu schaffen, in denen wir achtsam und inklusiv miteinander sprechen, auch wenn wir selbst manchmal ringen, sortieren, schweigen oder springen.
Und was ist, wenn ihr Fehler macht?
Dann atmet durch. Systemfreundlich zu kommunizieren bedeutet nicht, alles richtig zu machen. Es bedeutet, bereit zu sein, zu lernen. Es bedeutet, sich zu entschuldigen, wenn etwas daneben ging. Und es bedeutet, offen zu bleiben. Für neue Antworten, neue Stimmen, neue Verbindungen.

Wann braucht ihr systemfreundliche Kommunikation?
Die kurze Antwort: Immer dann, wenn ihr mit einem DIS-System in Kontakt seid.
Die längere und wichtigere Antwort:
Ganz besonders in Momenten, in denen ihr selbst nicht mehr ganz durchblickt. Wenn euch Verhalten verwirrt, Aussagen widersprüchlich wirken, plötzlich eine ganz andere Stimmung im Raum ist oder euer Gegenüber scheinbar „weg“ ist. Genau dann wird systemfreundliche Kommunikation zur Brücke. Zwischen euch und uns. Zwischen Innen- und Außenwelt.
Zwischen Jetzt und Früher.
typische Situationen, in denen systemfreundliche Kommunikation Gold wert ist
Bei einem Switch – also einem Wechsel zwischen Anteilen
Switches können deutlich oder ganz subtil sein. Manche kündigen sich an („Ich merke, da will jemand anderes sprechen“), andere passieren plötzlich.
Systemfreundlich zu reagieren heißt in dem Moment: nicht in Panik verfallen, nicht „die Kontrolle zurückfordern“, sondern innerlich umschalten. Vielleicht kurz innehalten. Vielleicht fragen:
„Möchtest du mir sagen, wer gerade da ist oder lieber nicht?“
Oder einfach offen lassen:
„Ich bleibe da, ihr müsst nichts erklären.“
Wenn ihr euch wundert, warum plötzlich alles anders ist
Plötzlicher Rückzug, neue Vorlieben, andere Stimme, veränderte Wortwahl. All das kann Ausdruck eines anderen Innies sein. Statt zu denken „Was ist denn jetzt los?!“, könnt ihr systemfreundlich fragen:
„Ist vielleicht jemand anderes da als beim letzten Mal?“
Oder einfach spiegeln, ohne zu bewerten:
„Gerade wirkt es ganz anders als vorher, ihr könnt mir sagen, was ihr mögt.“
Bei Erinnerungslücken oder widersprüchlichen Aussagen
„Aber das hast du doch selbst erzählt!“. Sätze wie dieser können zutiefst verunsichern und verletzen. Systemfreundlich wäre hier:
„Letztes Mal haben wir über XY gesprochen, kann sein, dass das jemand anderes war?“
So gebt ihr uns die Chance, unsere eigene Innenlogik zu wahren, ohne in Frage gestellt zu werden.
Wenn ihr auf Schweigen, Überforderung oder Rückzug trefft
Nicht jedes Schweigen ist Widerstand, oft ist es ein Schutzmechanismus. Vielleicht weiß gerade niemand, wie er reagieren soll. Vielleicht ist der Innenraum voll, laut oder leer.
Dann gilt: Weniger ist mehr. Präsenz, kein Druck, einfache Sprache, das hilft.
Zum Beispiel:
„Wir müssen jetzt nicht weitermachen. Ich bin da, wenn ihr bereit seid.“
Oder:
„Ihr müsst mir nichts erklären. Wir können es auch später lassen.“

Systemfreundliche Kommunikation – feinfühlig für zwischen den Zeilen
Nicht, weil ihr Hellseher*innen sein müsst, sondern weil euer Respekt, euer Tempo, eure Offenheit den Unterschied machen. Gerade in Momenten, in denen es im Innen unruhig wird, kann eure Art zu sprechen entweder Sicherheit geben oder Alarm auslösen. Wenn ihr in solchen Momenten systemfreundlich bleibt, gebt ihr uns das kostbarste Signal, das ein DIS-Mensch bekommen kann:
„Ihr dürft sein. So, wie ihr seid. Und ihr müsst nichts leisten, um in Beziehung zu bleiben.“
Fazit – Systemfreundliche Kommunikation ist Beziehung auf Augenhöhe
Wenn ihr mit DIS-Menschen in Kontakt seid, sei es beruflich oder persönlich, dann ist systemfreundliche Kommunikation kein netter Zusatz. Sie ist die Grundlage für Vertrauen, Sicherheit und Verbindung. Sie braucht kein Fachstudium, keine perfekten Worte, kein Spezialvokabular.
Was sie wirklich braucht, ist:
- eure Bereitschaft, zuzuhören, auch wenn ihr nicht alles versteht.
- euren Respekt gegenüber Vielfalt, auch wenn euch ein Innen ungewohnt begegnet.
- euren Mut, Unsicherheit auszuhalten, ohne vorschnelle Erklärungen.
Ihr müsst uns nicht „therapieren“, nicht „durchschauen“ und auch nicht „reparieren“.
Aber wenn ihr mit uns sprecht, als wären wir alle da, dann helft ihr, dass wir das auch selbst glauben können.
Systemfreundlich zu kommunizieren bedeutet:
Sprache zu nutzen, um Brücken zu bauen, nicht Mauern.
Und das verändert nicht nur unsere Systeme, sondern oft auch euch selbst.

Bonus – Formulierungen für systemfreundliche Kommunikation
Hier ein paar Impulse für typische Situationen. Zum Mitnehmen, Nachdenken und/oder Ausprobieren:
Einstieg ins Gespräch
- „Wie geht es euch heute?“
- „Wer von euch ist gerade da, wenn ihr das sagen mögt?“
- „Gibt es etwas, das euch heute besonders wichtig ist?“
Bei Unsicherheit oder Wechseln
- „Ich habe das Gefühl, gerade hat sich etwas verändert, möchtet ihr was dazu sagen?“
- „Es wirkt, als wäre jemand anderes gerade da, ich spreche euch so an, wie ihr mögt.“
- „Ihr müsst mir nichts erklären, ich bin da.“
Wenn ihr auf Schweigen oder Rückzug trefft
- „Kein Stress, ihr dürft euch Zeit lassen.“
- „Es ist okay, wenn gerade keine Worte da sind.“
- „Ich warte, bis ihr wieder sprechen mögt, alles gut.“
Wenn ihr etwas nicht versteht
- „Darf ich kurz nachfragen: ist das für euch gerade stimmig?“
- „Mag jemand anderes im Innen vielleicht was ergänzen?“
- „Es klingt unterschiedlich zu vorher. Kann sein, dass ihr da Verschiedenes erlebt habt?“